Lebenswege

Herr N. erzählte mir heute eine kleine Geschichte, die offenbar das Leben selbst schrieb:

Vor vielen Wochen – ja, der Herr N. konnte sich da gar nicht mehr so recht erinnern,
wann es genau war – jedenfalls, schon viele viele Wochen her, da ging er hinaus zum Einkaufen.

Und als er so an seiner Straße, am seinem Wohnhaus entlang ging, fiel ihm ein großer Lastwagen auf, der dort parkte.
Da parken ja öfters schon einmal die LKWs am Wochenende.
Der Laster hatte vorne am Rad eine große Radkralle.
Wohl, dass man den Laster nicht klauen könne.
Und da der Lastwagenfahrer selbst grade an seinem Laster stand und an der Kralle drehte,
so sprach ihn der Herr N. recht freundlich an:

„Sagen Sie, mein Herr, so eine Radkralle ist ja gut,
aber was passiert denn, wenn man vergisst,
dass sie am Rad ist und man losfährt?“

„Oh,“
antwortete der Mann am Laster und schmunzelte,
„das ist schlecht, das ist die Kehrseite der Medallie.
Zwar kann keiner damit wegfahren,
aber wenn man es trotzdem versucht,
kann man sich den Laster schön kaputt machen.“

Beide grinsten einander verschmitzt an.
Und so kamen die Männer ins Gespräch.

„Ach,“ sagte der Mann am Laster weiter, „wo ich grade gesehen habe,
dass sie dort aus den großen Häusern kamen“,
und zeigte auf die roten Häuser der Wohnstraße entlang,
„ich habe gehört, dass dort eine Wohnung frei sein soll oder werde,
wissen Sie da mehr?“

Und so erkundigte sich der Mann wohl bei dem Herrn N.
nach der Wohnung meiner lieben Mutter, die grade verstorbenen war.
Denn der Herr N. war ihr langjähriger Nachbar.

„Hm, ja“, gab der Herrn N. zurück.
Doch da könne er dem Mann nicht viel drüber sagen.
Naja – er wolle da auch nicht aus dem Nähkästchen plaudern,
und gab zurück, dass ihn schon so einige auf die Wohnung angesprochen hätten,
denn diese sei sehr begehrt hier in dieser Gegend.

Der Herr N. wisse lediglich, dass wohl eine Immobilienfirma mit dem Verkauf betraut worden sei und
dass man eventuell einen Aushang im Flur machen wolle. Mehr könne er ihm nicht sagen.

*

Die Zeit verging.

Den weiteren Winter lang sahen sich die Männer nicht wieder.

Bis heute. Als nun der schöne März den dunklen Winter ablöste.

Denn heute morgen, als die Sonne so schön schien,
auch wenn der Wind noch ordentlich kalt war,
und der Herr N. sich wieder einmal auf den Weg zum Einkaufen machte,
so ging er auch wieder an jener Straße entlang seines Wohnhauses.

Und nach den vielen Wochen stand nun erneut der große Laster dort.
Und auch war der Mann vom Laster dabei.

Und als der Mann vom Laster den Herrn N. schon von Weitem sah,
so winkte er ihn ganz eifrig zu sich; lachte und rief laut:

„Hallo, hallo! Sie hat mir ganz sicher damals der Himmel geschickt!!“

Und der Herr N. kam zu dem Mann am Laster ganz erstaunt und wunderte sich.

Da sagte der Mann voller Freude am Laster:

„Ach mein Sohn! Mein Sohn hat die Wohnung bekommen!
Und die Schlüssel hat er grade diese Woche erhalten!
Danke! Danke! Dass ich Sie damals getroffen habe,
so konnten wir zur rechten Zeit ausfindig machen,
wer dort anzusprechen war!“

*

Der Herr N. freute sich mit und
kaum dass er nach dem Einkauf wieder zu hause war,
so schellte ein junger Herr bei ihm an der Türe:
es war der Sohn des Lastwagenmannes
und stellte sich dem Herrn N. mit Handschlag vor!

„So ordentlich und zuvorkommend.“, dachte der Herr N.,
der ja selbst schon über die 90 Jahre alt war.
Und der Herr N. war ganz angetan!
Denn in den modernen Zeiten von heute,
vermisste er doch die alten Höflichkeiten mitunter.

*

Dies also sollte nun sein neuer Nachbar sein,
denn die beiden Wohnungen lagen ja gleich nebeneinander.
Nur wenige Monate später aber, zeichnete sich mehr und mehr ab,
dass der Herr N. wohl nicht mehr alleine in seiner geliebten Wohnung leben konnte.
Seine liebe Frau lebte bereits seit längerer Zeit schon in einem Altenheim in der Nähe und musste gepflegt werden.

So ergab es sich, dass nun der Enkel des Herrn N. seine Wohnung übernahm.

Ein junger Mann, wohl etwa im gleichen Alter des jungen Lasterwagenfahrer-Sohnes.

*

Wie ist das mit Zufällen im Leben? War alles nur Zufall?

Herr N. lebte lange in seiner Wohnung – wohl um die 50 Jahre.
Und es verband die Nachbarwohnungen meiner Eltern und der Eheleute N.
eine außergewöhnlich gute Nachbarschaft.

Und so sind nun doch die Resonanzen der Wohnung geblieben:
der Geist, der guten, harmonischen Nachbarschaft.

Und der Zufall fällt wohl nur dem zu, dem er auch zufallen sollte.

So fanden beide Wohnungen auch die passenden Käufer.

Da kommt man ins Staunen, wenn man bedenkt,
wie viele Menschen und Lebensgeschichten manch Wohnung –
manch‘ Haus schon gesehen hat.

Auf eine neue, gute und lange Nachbarschaft.

*
Auch so ist das Leben.

*

 

März 2022

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